Wie das Erz ins Peiner Land kam (eine Sage):

 

Dort, wo sich heute Luh- und Herzberg erheben, war früher weites, endloses Sumpfland. Erlen und Weiden, Schilf und Rohkolben, Seggen und Binsen wuchsen dort. Wenn der Wind darüber hinstrich, so flüsterte das Schilf und sang sein leises Lied.

Eines Abends, als schon alles Leben in Sumpf und Moor zur Ruhe gegangen war und nur der Wind noch die letzten Klänge des Schilfliedes dahintrug, standen zwei Riesen in dieser Landschaft und sahen voll Staunen über Sumpf und ebenes Land. Sie kamen aus den hohen Bergen des Nordlandes und mussten sich erst an die niegeschaute Form des Flachlandes gewöhnen. In den fernen Bergen hatten sie mit ihren Riesenkräften Müdigkeit nicht gekannt. Nun aber zog eine große Ermattung durch ihre Glieder. So häuften sie zwei Hügel aus den goldenen Blättern des Herbstlaubes und legten ihre Häupter darauf, um einen festen und tiefen Schlaf zu tun.

Am nächsten Morgen wurden die beiden Riesen von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne geweckt. Als sie ihre mächtigen Leiber aufrichteten und ihre Blicke in die Ferne sandten, sagte der eine Riese zum andern: „Bruder, weit umher ist Sumpf und Moor. Der Menschen Hütten sind fern. Vor uns liegt der Tod!“ Traurig senkte der Jüngere den Kopf und antwortete mit einer Stimme, die dunkel war von Not und Sorge: „Nur noch ein Stück Wild tragen wir bei uns, das wir gestern mühselig erlegten.“ Er schaute zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, aber aus dem dürren Heideland konnte ihnen keine Hilfe kommen. Sie beratschlagten, was sie tun könnten, um der Not abzuhelfen. Von der Antwort auf diese Frage hing ihr Schicksal ab, darum galt es, den richtigen Ausweg zu finden. Den Riesen war beim Aufbruch ein Spruch mit auf den Weg gegeben worden, der ihr Handeln lenken sollte:

               Wandert ihr weit in die Welt, trotzet in Treue der Tücke des Tages,

               da Hunger und Harm Heimsuchung halten!

Uneingedenk dieser Warnung gab der jüngere Riese den Rat: „Trennen wir uns!“ Da reckte sich auch der Ältere zu seiner ganzen Größe auf und sprach mit lauter Stimme: „Lass uns zuvor das Wild zum Mahle bereiten. Ehe wir scheiden, wollen wir noch einmal unsere Kräfte im Zweikampf messen.“

Langsam stieg die Sonne am klarblauen Himmel empor. Verschwenderisch goss sie ihre goldenen Strahlen über das weite Feld. Die Brüder sahen nichts von all der Pracht, die sie umgab. Ihr Tun war ganz auf die Bereitung des Abschiedsmahles gerichtet. Kerzengerade stieg der Rauch des Feuers zum Himmel auf. Bald verriet ein köstlicher Duft, dass das Mahl bereit war. Schweigend aßen die Brüder. Alsdann rüsteten sie sich zum letzten Waffengang. Zuerst legten sie die ehernen Beinharische an, schnallten den blinkenden Brustpanzer um und setzten den Helm aufs Haupt. Wie zwei Felsen standen sie da im Sonnenglanze. Ihre Schwerter blitzten im Sonnenlichte. Wenn sich die mächtigen Klingen kreuzten, so sprühten Funken wie Blitze auf die Erde nieder. Schlugen die Schwerter an die Panzerung, dann erdröhnte die Luft wie Donnerschlag.

Plötzlich zersprang bei einem wuchtigen Schlage die Klinge des jüngeren Bruders. Die abgebrochene Spitze drang dem anderen in die Brust. Er sank nieder. Sein Blut färbte den Sand dunkelrot. Ein Schrei entrang sich seinen Lippen: „Bruder, ein Ende hat alle Pein!“ Dann hauchte er sein Leben aus.

Den jüngeren Riesen hatte jähes Entsetzen erfasst. Regungslos starrte er auf den Toten. Gewissensbitte quälten ihn; denn erst jetzt erinnerte er sich, dass er den verhängnisvollen Rat zur Trennung gegeben hatte. Im Bewusstsein seiner Schuld bereitete er dem Toten die letzte Ruhestätte. Mit seinem Schwertstumpf grub er das Grab, bettete den Leichnam und die Waffen des Bruders hinein und bedeckte ihn mit Lauf und Erde.

Der Überlebende irrte allein in die düstere Nacht hinaus. In Schmerz und Trauer versunken, achtete er nicht des Weges. Wie die Irrlichter, die vor ihm tanzten, lief er hierhin und dorthin. So merkte er auch nicht, dass ein Gewitter heraufzog. Plötzlich zuckte ein greller Blitz auf, traf den Umherirrenden und erlöste ihn von seiner Seelenqual durch einen schnellen Tod. Panzer, Helm und Beinharnische schmolzen im Feuerstrahl des Blitzes und sanken mit dem Toten in die Tiefe.

Jahrtausende gingen dahin! Aus dem Moor schuf die Zeit einen dichten Urwald. Als die Menschen ihn rodeten und in der Erde gruben, klirrte Metall in der Tiefe. Sie gruben tiefer, bauten Schachte und Stollen und fanden das Erz der versunkenen Riesen. Fleißige Bergmannshände fördern es seitdem in schwerer Arbeit zu Tage. Geschickte Werkmannsfäuste schaffen in der Ilseder Hütte, im Walzwerk und in vielen Werkstätten der Stadt und des Kreises Peine an seiner Veredlung. So ist das Unglück der beiden Riesen zu einem Segen für das Peiner Land und ganz Niedersachsen geworden.

 

(Quelle: Landkreis Peine von der Lehrarbeitsgemeinschaft für Heimatkunde 1965 / Archiv Edemissen)